Üppigkeit
Ich liebe! Ich liebe! … Über die Welt will ich rennen, sie
umrunden mit einem Lauf und zurück zum Anfang, zurückkehren.
Ich bin nicht verrückt, doch scheine ich es zu sein.
Mein Wahn ist himmlisch und steckt an.
Sieh dich vor.
Alfonsina Storni (1892–1938)
Stella
Ob ich hier gut aufgehoben bin? Vorsichtig ziehe ich meinen Arm ein Stück nach oben, das hundertste Mal, seit sich mein Bewusstsein durch diesen grauen Medikamentennebel gekämpft hat. Zum hundertsten Mal fährt die Erkenntnis wie ein Stromschlag durch meinen Körper. Ich bin mit Manschetten an Händen und Füßen an dieses Bett fixiert. Ich kann mich nicht kratzen, nicht meine Position ändern, aber was noch viel schlimmer ist, ist dieser Durst. Mit trockener Zunge lecke ich über meine aufgesprungenen Lippen, stelle mir ein großes Glas kühlen Wassers vor. Das macht es nicht besser. Dann bewege ich den Kopf, betrachte das Zimmer, ein kleines Fenster, vergittert, der fade Wandanstrich möchte gar nichts Freundliches ausstrahlen, fünfzehn Quadratmeter voller übermalter Exkremente, Erbrochenem, angefüllt mit Todesangst und Schmerzen. Aber hey, das ist okay. Nur keine Gefühlsduseleien. Mir ist auch nicht nach rosaroten Gefühlen oder netten Worten. Mir ist nach etwas ganz anderem, Glitschigem, Warmen … Rotem. Am besten an meinen Händen und über den ganzen hässlichen Boden verteilt, und mittendrin ein Körper, leblos und verdreht. Ich bin wütend, eine Wut wie ein gefühlter Flächenbrand – schnell und heiß breitet er sich aus und beansprucht mein komplettes Denken und, wenn ich könnte wie ich wollte, auch mein Handeln. Die Frage, warum ich hier bin, stellt sich nicht, es war eine Verkettung unglücklicher Umstände, könnte man sagen. Eine Unbeherrschtheit meinerseits, dem Rauschen in meinem Kopf geschuldet. Dieses Rauschen. Es ist nicht allein der Ton: erst ein Summen, das zu einem ohrenbetäubenden Tosen anwächst. Wie ein Schwarm Heuschrecken, der sich durch meinen Kopf bewegt, jeden Winkel des Gehirns ausfüllt und frisst, mich frisst. Meine Reaktion? Eventuell etwas übertrieben, doch entschuldbar, wie ich finde. Du hattest nicht damit gerechnet, dass es sich so gut anfühlt.
Meine Härchen auf den Armen stellen sich auf. Nicht die Luft anhalten, ruhig weiteratmen. Ich will nicht abtauchen in diesen tiefen, eiskalten Brunnen, dessen ewige Dunkelheit mich verschlingt und Schuldgefühle wie deformierte, glitschige Monster nach oben würgt. So konzentriere ich mich auf meine Füße, erst den linken, dann den rechten und denke mich so an meinem Körper nach oben. Ich visualisiere, wie es Annabelle, meine Therapeutin, besser gesagt Ex-Therapeutin mir empfohlen hat. „Visualisieren, Stella! Dann weißt du, womit du es zu tun hast und kannst daran arbeiten.“
Visualisieren … Ich drehe meine Handgelenke hin und her, die Manschetten sind etwas gepolstert, ich rüttle meine Hände und spüre erleichtert, dass das feste Material mein Fleisch aufreibt. Das Brennen bringt mich augenblicklich zu mir. Ich spüre mich, ich bin da, weit davon entfernt, zu verschwinden.
Annabelle, wäre stolz auf mich.
Annabelle, auf Rettungsmission unterwegs.
Annabelle, mit diesen riesigen, blauen Puppenaugen und den kleinen, roten, gespitzten Lippen, den gebleichten Zähnen und der großen Lücke zwischen den Schneidezähnen, was ihrem Aussehen etwas Laszives verleiht. Annabelle die Schlampe.
Ich kann ihr nicht vorwerfen, dass sie es nicht wirklich versucht hätte. Es ist nun mal nicht einfach mit mir. Das hat Papa schon immer gesagt, wenn ich nicht feucht genug für seine Zuwendungen war. Es ist nicht einfach mit mir. Punkt. Drauf geschissen.
Ich wollte wirklich nicht, dass es so weit kommt. Ich wollte nur … den Dreck hinter mir lassen, erzählen, eine Chance…
Liegt im steten Verrücktsein nicht auch Normalität?
Ich hatte Annabelles Praxis durch Zufall entdeckt, das Schild mit der verschnörkelten Schrift versteckte sich an einer mit Buchstaben besprühten Hauswand hinter einem wildwuchernden Rosenstrauch. Die roten, verwelkten Blüten hatten sich teilweise unter das Schild geschoben und gaben dem Namen Annabelle Sterne, Psychiaterin, einen tragischen Rahmen, der meine Neugierde weckte.
Ich traf eine Entscheidung, stand kurz darauf in der Praxis und vereinbarte eine Beratungsstunde.
Beim ersten Termin schwiegen wir beide, ich hatte mich in diesem riesigen Sessel wie eine Kugel zusammengerollt. Annabelle hatte eine Decke über mich gelegt und auf ihrem Stuhl Platz genommen. Ich entspannte mich langsam und sah mich im Zimmer um. An den Wänden hingen große, bunt bemalte Leinwände, die nicht erkennen ließen, was sich der Maler dabei gedacht hatte. Die leuchtenden Farben rot, gelb und orange flossen ineinander, als würden sie sich brauchen, um trotz ihrer Andersartigkeit zu einem Ganzen zu verschmelzen, eine Einheit zu bilden.
Zwei Gemälde zogen immer wieder meinen Blick auf sich. Sie hingen untereinander und zeigten das Meer in verschiedenen Farben. Annabelle beobachtete mich und sagte: „Gefallen dir die Bilder?“
Ich nickte langsam und zog die Wolldecke bis zum Kinn.
„Warst du schon einmal am Meer?“ Annabelle deutete auf das obere Bild: „Was siehst du darauf?“
„Eine stürmische See unter einem grünen Himmel mit gelben und roten Wolken.“
Sie nickte, doch nicht zufrieden. „Aber was siehst du? Was empfindest du? Welche Farbe zieht dich an?“
Wie gerne hätte ich Annabelle erzählt, dass ich das Meer rauschen hörte, dass das Brechen der Wellen mein Herz schneller schlagen ließ und die Farbe der Gischt, ein scheinbar leuchtendes Weiß, magisch schimmerte? Ich schwieg. Die Worte kämpften darum, gesprochen zu werden, doch ich konnte nicht.
In der Woche danach lag ein Buch auf dem Tisch. Annabelle deutete darauf: „Das ist für dich. Die Bilder, die dir so gefallen, sind von Emil Nolde, einem deutschen Maler. In diesem Buch findest du seine Meeresbilder.“
„Danke“, krächzte ich. Meine Stimme kam mir unnatürlich laut vor. Ein Geschenk. Ich hatte noch nie ein Geschenk bekommen. Papa hat dir doch immer wieder etwas geschenkt, dort unten im Keller.
„Was zieht dich so an? Was gefällt dir am Meer?“
„Wenn ich in das Blau falle, löse ich mich auf, werde absorbiert. Das fühlt sich gut an.“
Ich kann nicht genau sagen, was ich an unseren Gesprächen so mochte, Frau Saubermann Annabelle avancierte zu einer Superheldin mit gestärkter weißer Bluse und hochgesteckten Haaren. Der Dreck und die Scheiße in meinem Inneren brodelten in mir hoch, und während ich schluckte und schluckte, um nicht daran zu ersticken, glitt sie an ihr ab wie Öl auf Metall. Sie war nicht verstört, redete mir zu, meine Gedanken wären normal, blablabla, ich könnte es schaffen, ein normales Leben zu führen, blablabla.
Es wäre nicht meine Schuld. Mein Fehler, ihr zu glauben, mein Fehler, mich nicht zu wehren, mein Fehler, zu vertrauen.
Dann ließ sie mich einweisen. In die Psychiatrie, die geschlossene Abteilung. Ich wehrte mich nicht, als sich die Türe öffnete und die vielen Menschen kamen, um mich mitzunehmen. Ich weiß, wann ich verloren habe. Dann heißt es die Beine breitmachen, um gefickt zu werden, und es ist egal, in welches Loch. Annabelle die Verräterin. Dicke Tränen liefen über ihre Puppenwangen: „Es tut mir leid Stella, es ist zu deiner Sicherheit, Stella. Ich werde die Therapie mit dir weiterführen, Stella. Wir sehen uns, Stella. Ich verspreche es dir!“ Dieses Versprechen hat sie gehalten, sie kam in die Klinik, um die Therapie weiterzuführen. Kaum waren wir allein, fiel ich über sie her. Ich versetzte ihr einen Schlag mit der Faust ins Gesicht, und dann veränderte ich seine Struktur, verschob Knochen und zermalmte Knorpel, verlor dabei jedes Zeitgefühl. „So fühlt es sich an, Annabelle, wenn ich enttäuscht bin. So ist sie, meine Welt. Es gibt keinen Ausweg, keine Fluchtmöglichkeit.“
Dann wurde ich aufgehalten, von ihr weggerissen und dann … Schwärze.
Dieser Durst wird langsam unerträglich. Sollte es nicht eine Klingel geben, die ich auch fixiert erreichen kann? Gibt es nicht so eine Vorschrift? Es ist schwierig, genügend Spucke zu sammeln, um den Mund anzufeuchten, dass ich schreien kann. Ich bin nicht so laut, wie ich es gerne wäre, aber ich schreie. „Ist da jemand? Hey! Hallo!“ Das Gebrüll hat mich erschöpft, aber keine Wirkung erzielt. Hier gibt es Kameras, sicherlich, irgendjemand will mich hier schmoren lassen. Ich versuche mich zu entspannen, meine Schultern und mein Nacken schmerzen. Annabelles dunkles Lachen klingt in meinem Kopf, ihr Tonfall ein wenig lehrerhaft, unverbindlich. Der Duft ihres Haares, süß und blumig … Ich blinzle, die Bilder verzerren sich, der blonde Schopf plötzlich rot gefärbt. Du hast zugeschlagen, ohne dir zu überlegen, was passieren wird, und dann konntest du nicht mehr aufhören.
Und dann ist es immer wieder und wieder passiert … Dann sah sie aus wie ein rosa Ferkelchen.
Ich habe sie angemalt mit ihrem Blut, auch ich bin eine Künstlerin und weiß mit Farben umzugehen. Annabelle, das hast du verdient. Vertrauen muss man sich verdienen. Ihre Augen sind panisch und voller Todesangst, sie kennt mich, weiß, dass ich nicht aufhören kann. Du dachtest, ich verzeihe dir? Du dachtest du kannst ungestraft den Wunsch in mir wecken wie du zu sein? Wie du zu fühlen? Du büßt jetzt für alles in meinem Leben oben in der Absurdität des Normalen und tief unten in der Realität des Kellers. Du trägst das Büßerhemd und ich habe es dir angezogen.
Ja, Annabelle, wir führen die Therapie weiter – auf meine Weise.
Gut. Ich oute mich ja schon. Ich habe ein differenziertes Verhältnis zu meinen Mitmenschen. Deshalb lebe ich auch in einer geschlossenen Abteilung. In einer Einrichtung, die auf Menschen wie mich spezialisiert ist. Jetzt stellt sich natürlich die Frage, wer ‘Menschen wie ich‘ sind. Verrückte, ganz klar. Therapierbar? Ja und nein. Ich bin es selbstverständlich nicht, denn mit mir ist alles in Ordnung. Ich bin beschädigte Ware, doch wer ist das nicht?
Die Tür wird entriegelt. Bei diesem Geräusch wird meine Gier nach Wasser stärker, ich bin konditioniert wie der Hund bei Pawlow.
„Schtella, Schtella. Wieder wach?“ Das Pflegerlein tritt an meine Seite, legt seine Hand auf meinen nackten Arm und streicht mit den Fingerspitzen über die Haut. Er ist auf der Hut, hält Abstand zu mir. Könnte ich mich aus der Fixierung befreien, hätte er allen Grund, sich zu fürchten. Er fasst meine Brüste an, streicht fest über die Warzen. Obwohl ich es hasse, bewege ich mich nicht, starre ihn an, doch er ist zu sehr auf meinen Körper konzentriert.
„Wie geil du bist, ich merke es doch.“
„Wenn du mich losmachst, können wir unser Spiel spielen.“ Meine Stimme ist lockend. „Du darfst mir deinen Schwanz in den Mund schieben, das hätte ich jetzt gerne!“
Das Pflegerlein sieht mich prüfend an. „Nein, Schtella,ich kann dich nicht losmachen. Aber vielleicht sollte ich ein bisschen mit dir spielen, wo du dich nicht wehren kannst?“ Er streicht über meine Beine.
In meinem Kopf beginnt es zu rauschen. Die Wut quillt aus allen meinen Poren, und ich knirsche mit den Zähnen. Ich mag nicht angefasst werden, er sollte das wirklich wissen. Ich fasse ausschließlich ihn an.
Dann hält er mir einen Becher mit einem Strohhalm an die Lippen, und ich sauge gierig daran, was er mit einem verhangenen Blick beobachtet. „Dieses Mal hast du so richtig
Scheiße gebaut.“ Er sieht auf mich herunter. „So schnell kommst du hier nicht mehr raus. Warum hast du das nur getan?“
Ich habe es getan, weil ich es kann. Weil sie etwas in mir aufgeweckt hat, was besser verborgen geblieben wäre. Weil sie mich belogen hat. Weil sie mir Hoffnung gemacht hat. Für mich gibt es keine Hoffnung. Sie hat mir etwas genommen, und ich wollte ihr etwas nehmen. Annabelle hat mir meine Hoffnungslosigkeit genommen und mir Zuversicht gegeben. Jetzt sehne ich mich nach etwas, was ich niemals haben kann. Normalität gibt es nicht für mich. Vertrauen gibt es nicht für mich. Liebe gibt es nicht für mich.
Jeder Schlag und jede Träne hat mich stärker gemacht, brachte etwas in mir zum Klingen. Ein reiner und klarer Ton, wie ihn nur ein Musiker dem richtigen Instrument entlocken kann. Die Kriegerprinzessin als Musikerin, Annabelle das Instrument. Die Schreie, das Weinen, Betteln und Schluchzen die Musik. Ihr Körper schmiegte sich um meine Faust, als wäre er dafür geboren. Die Knochen in ihrem Gesicht brachen und formten eine neue Annabelle, eine bessere Annabelle, eine perfekte Annabelle. Ich spüre den Nachhall der Schläge und ein Ziehen zwischen meinen Beinen.
Doch das bleibt mein Geheimnis. Ich weiß, sie hat es überlebt, doch sie ist nicht mehr in der Lage, Menschen zu belügen. Sie ist keine Superheldin, sie ist einfach eine Schlampe und blutet so, wie jede Schlampe bluten sollte.
Ich reiße übertrieben die Augen auf. „Ich kann mich nicht erinnern. Was ist passiert? Was ist denn nur los? Warum bin ich hier?“ Theatralische Pause, geschlossene Augen…. „Oh! Habe ich sie umgebracht? Was habe ich nur getan!“ Dann beginne ich zu weinen.
Das Pflegerlein ist jetzt voller Mitleid. Nein, blablabla, sie hat überlebt, aber auch nur knapp … blablabla.
Auch das kann ich gut. Gut schlagen, gut treten. Eines ist mir klar: Hier bin ich nicht gut aufgehoben. Akuter Mangel an Therapeuten. Ich helfe mir lieber selbst. Ich werde diesen Ort verlassen und meinen Wirkungskreis erweitern. Der süße Pfleger beugt sich über mich und versucht, mich zu beruhigen. Ich bin jetzt so gekonnt aufgelöst, weine und schniefe. Er streichelt mir das Gesicht, meine Lippen. Ich denke kurz darüber nach, ihm seinen Finger abzubeißen, wenn ich die Gelegenheit bekomme, doch ich habe andere Pläne. Das Pflegerlein spielt darin eine nicht unerhebliche Rolle, doch brauche ich ihn unversehrt.
Was soll ich sagen? Das hier ist großes Kino, mit mir in der Hauptrolle.
Es hat sich so richtig angefühlt, so gut, so perfekt. Annabelle hat mir eine neue Stärke geschenkt und eine Möglichkeit zu verschwinden, mich aufzulösen im Blau, in den Wellen, im Meer.
Ich bin die Kriegerprinzessin, und ich werde die Welt mit roter Farbe füllen. Das Blau ist nur für mich.
©Alexandra Mazar
Lektorat Claire Bué