Dieser Durst wird langsam unerträglich. Sollte es nicht eine Klingel geben, die ich auch fixiert erreichen kann? Gibt es nicht so eine Vorschrift? Es ist schwierig, genügend Spucke zu sammeln, um den Mund anzufeuchten, dass ich schreien kann. Ich bin nicht so laut, wie ich es gerne wäre, aber ich schreie. „Ist da jemand? Hey! Hallo!“ Das Gebrüll hat mich erschöpft, aber keine Wirkung erzielt. Hier gibt es Kameras, sicherlich, irgendjemand will mich hier schmoren lassen. Ich versuche mich zu entspannen, meine Schultern und mein Nacken schmerzen. Annabelles dunkles Lachen klingt in meinem Kopf, ihr Tonfall ein wenig lehrerhaft, unverbindlich. Der Duft ihres Haares, süß und blumig … Ich blinzle, die Bilder verzerren sich, der blonde Schopf plötzlich rot gefärbt. Du hast zugeschlagen, ohne dir zu überlegen, was passieren wird, und dann konntest du nicht mehr aufhören.
Und dann ist es immer wieder und wieder passiert … Dann sah sie aus wie ein rosa Ferkelchen.
Ich habe sie angemalt mit ihrem Blut, auch ich bin eine Künstlerin und weiß mit Farben umzugehen. Annabelle, das hast du verdient. Vertrauen muss man sich verdienen. Ihre Augen sind panisch und voller Todesangst, sie kennt mich, weiß, dass ich nicht aufhören kann. Du dachtest, ich verzeihe dir? Du dachtest du kannst ungestraft den Wunsch in mir wecken wie du zu sein? Wie du zu fühlen? Du büßt jetzt für alles in meinem Leben oben in der Absurdität des Normalen und tief unten in der Realität des Kellers. Du trägst das Büßerhemd und ich habe es dir angezogen.
Ja, Annabelle, wir führen die Therapie weiter – auf meine Weise.
Gut. Ich oute mich ja schon. Ich habe ein differenziertes Verhältnis zu meinen Mitmenschen. Deshalb lebe ich auch in einer geschlossenen Abteilung. In einer Einrichtung, die auf Menschen wie mich spezialisiert ist. Jetzt stellt sich natürlich die Frage, wer ‘Menschen wie ich‘ sind. Verrückte, ganz klar. Therapierbar? Ja und nein. Ich bin es selbstverständlich nicht, denn mit mir ist alles in Ordnung. Ich bin beschädigte Ware, doch wer ist das nicht?
Die Tür wird entriegelt. Bei diesem Geräusch wird meine Gier nach Wasser stärker, ich bin konditioniert wie der Hund bei Pawlow.
„Schtella, Schtella. Wieder wach?“ Das Pflegerlein tritt an meine Seite, legt seine Hand auf meinen nackten Arm und streicht mit den Fingerspitzen über die Haut. Er ist auf der Hut, hält Abstand zu mir. Könnte ich mich aus der Fixierung befreien, hätte er allen Grund, sich zu fürchten. Er fasst meine Brüste an, streicht fest über die Warzen. Obwohl ich es hasse, bewege ich mich nicht, starre ihn an, doch er ist zu sehr auf meinen Körper konzentriert.
„Wie geil du bist, ich merke es doch.“
„Wenn du mich losmachst, können wir unser Spiel spielen.“ Meine Stimme ist lockend. „Du darfst mir deinen Schwanz in den Mund schieben, das hätte ich jetzt gerne!“
Das Pflegerlein sieht mich prüfend an. „Nein, Schtella,ich kann dich nicht losmachen. Aber vielleicht sollte ich ein bisschen mit dir spielen, wo du dich nicht wehren kannst?“ Er streicht über meine Beine.
In meinem Kopf beginnt es zu rauschen. Die Wut quillt aus allen meinen Poren, und ich knirsche mit den Zähnen. Ich mag nicht angefasst werden, er sollte das wirklich wissen. Ich fasse ausschließlich ihn an.
Dann hält er mir einen Becher mit einem Strohhalm an die Lippen, und ich sauge gierig daran, was er mit einem verhangenen Blick beobachtet. „Dieses Mal hast du so richtig
Scheiße gebaut.“ Er sieht auf mich herunter. „So schnell kommst du hier nicht mehr raus. Warum hast du das nur getan?“
Ich habe es getan, weil ich es kann. Weil sie etwas in mir aufgeweckt hat, was besser verborgen geblieben wäre. Weil sie mich belogen hat. Weil sie mir Hoffnung gemacht hat. Für mich gibt es keine Hoffnung. Sie hat mir etwas genommen, und ich wollte ihr etwas nehmen. Annabelle hat mir meine Hoffnungslosigkeit genommen und mir Zuversicht gegeben. Jetzt sehne ich mich nach etwas, was ich niemals haben kann. Normalität gibt es nicht für mich. Vertrauen gibt es nicht für mich. Liebe gibt es nicht für mich.
Jeder Schlag und jede Träne hat mich stärker gemacht, brachte etwas in mir zum Klingen. Ein reiner und klarer Ton, wie ihn nur ein Musiker dem richtigen Instrument entlocken kann. Die Kriegerprinzessin als Musikerin, Annabelle das Instrument. Die Schreie, das Weinen, Betteln und Schluchzen die Musik. Ihr Körper schmiegte sich um meine Faust, als wäre er dafür geboren. Die Knochen in ihrem Gesicht brachen und formten eine neue Annabelle, eine bessere Annabelle, eine perfekte Annabelle. Ich spüre den Nachhall der Schläge und ein Ziehen zwischen meinen Beinen.
Doch das bleibt mein Geheimnis. Ich weiß, sie hat es überlebt, doch sie ist nicht mehr in der Lage, Menschen zu belügen. Sie ist keine Superheldin, sie ist einfach eine Schlampe und blutet so, wie jede Schlampe bluten sollte.
Ich reiße übertrieben die Augen auf. „Ich kann mich nicht erinnern. Was ist passiert? Was ist denn nur los? Warum bin ich hier?“ Theatralische Pause, geschlossene Augen…. „Oh! Habe ich sie umgebracht? Was habe ich nur getan!“ Dann beginne ich zu weinen.
Das Pflegerlein ist jetzt voller Mitleid. Nein, blablabla, sie hat überlebt, aber auch nur knapp … blablabla.
Auch das kann ich gut. Gut schlagen, gut treten. Eines ist mir klar: Hier bin ich nicht gut aufgehoben. Akuter Mangel an Therapeuten. Ich helfe mir lieber selbst. Ich werde diesen Ort verlassen und meinen Wirkungskreis erweitern. Der süße Pfleger beugt sich über mich und versucht, mich zu beruhigen. Ich bin jetzt so gekonnt aufgelöst, weine und schniefe. Er streichelt mir das Gesicht, meine Lippen. Ich denke kurz darüber nach, ihm seinen Finger abzubeißen, wenn ich die Gelegenheit bekomme, doch ich habe andere Pläne. Das Pflegerlein spielt darin eine nicht unerhebliche Rolle, doch brauche ich ihn unversehrt.
Was soll ich sagen? Das hier ist großes Kino, mit mir in der Hauptrolle.
Es hat sich so richtig angefühlt, so gut, so perfekt. Annabelle hat mir eine neue Stärke geschenkt und eine Möglichkeit zu verschwinden, mich aufzulösen im Blau, in den Wellen, im Meer.
Ich bin die Kriegerprinzessin, und ich werde die Welt mit roter Farbe füllen. Das Blau ist nur für mich.
©Alexandra Mazar